Ausgelöst hat die vorliegenden Expertenberichte über die Heimaufsicht im Kanton Bern ein aussergewöhnlich schwerwiegender Fall von sexuellem Missbrauch. Vor rund einem Jahr hat die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern informiert, dass ein Sozialtherapeut während rund 30 Jahren in neun Heimen mehr als 100 Kinder und Behinderte missbraucht hat. Die Übergriffe ereigneten sich mehrheitlich in bernischen Institutionen. Das hat den Gesundheits- und Fürsorgedirektor, Regierungsrat , sowie den Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektor, Regierungsrat Christoph Neuhaus, veranlasst, die Aufsichtstätigkeit über die Heime von externen Experten unter die Lupe nehmen zu lassen. Sie beauftragten Markus Müller, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Bern, abzuklären, inwieweit die zuständigen Stellen mit den heutigen Aufsichtsinstrumenten und Kompetenzen in der Lage sind, ihre Aufgabe wahrzunehmen. Monika Egli-Alge, Geschäftsführerin des Forensischen Instituts Ostschweiz, durchleuchtete gleichzeitig die heiminternen Abläufe und Prozesse zum Schutz vor sexuellen Übergriffen gegenüber Bewohnerinnen und Bewohnern.
«Wir sind dankbar für die differenzierten Analysen», sagte Regierungsrat anlässlich der Medienkonferenz von heute Montag (12. März 2012), an der die Experten ihre Berichte vorstellten. Sie zeigten auf, dass viele Dinge bereits gut funktionierten, aber auch Handlungsbedarf vorhanden ist. «Wir schauen ebenfalls genau hin und wollen uns, wo es geht und es die Ressourcen zulassen, verbessern», hielt Regierungsrat Perrenoud fest. Auch Regierungsrat Christoph Neuhaus bestätigte: «Die beiden Direktionen nehmen den Befund der Experten nicht einfach zur Kenntnis.» Daher hätten sie das weitere Vorgehen bereits eingeleitet und die drei betroffenen Ämter der beiden Direktionen (Jugendamt, Alters- und Behindertenamt und Sozialamt) mit der Überprüfung beauftragt, ob auf Grund der Feststellungen in den Expertenberichten Sofortmassnahmen eingeleitet werden müssen. Im weiteren haben sie den Auftrag erhalten, ein Modell zur Neuorganisation der kantonalen Aufgaben in der Aufsicht der Heime auszuarbeiten. Damit soll gleichzeitig eine vom Grossen Rat überwiesene Motion erfüllt werden, die eine Vereinfachung der Strukturen im Bereich der Institutionen der stationären Jugendhilfe verlangt. Im Herbst 2012 wird der Regierungsrat voraussichtlich den Grundsatzentscheid zur Modellwahl fällen. Anschliessend kann dann die Anpassung der rechtlichen Bestimmungen vorbereitet werden. Über diese soll der Grosse Rat im Verlauf des nächsten Jahres befinden können.
Für Markus Müller sind die Zuständigkeiten für die Aufsicht der Heime nicht durchwegs klar und unmissverständlich geregelt. Die Oberaufsicht sei geprägt durch die Aufteilung der Zuständigkeiten auf mehrere Ämter und Direktionen. Durch diese historisch gewachsene Struktur haben sich denn auch unterschiedliche Aufsichtkulturen etabliert, weshalb verwandte Problemfelder teilweise ohne ersichtlichen sachlichen Grund unterschiedlich geregelt sind und sich eine unterschiedliche Praxis entwickelt hat. Der Experte schlägt daher eine rechtliche Harmonisierung vor. Die Aufsicht der Heime soll für alle Bereiche (Alters-, Behinderten-, Kinder- und Jugendheime) vereinheitlicht und wenn möglich in einem Erlass konzentriert werden. Gleichzeitig soll die heutige Zuständigkeitsordnung mit der Verteilung der Verantwortung auf mehrere Stellen überprüft werden, um die Professionalisierung der Heimaufsicht zu stärken. Zudem schlägt er vor, dass für alle Heime Konzepte zum Umgang mit der Sexualität sowie ein einheitliches Vorgehen bei der Neuanstellung von Mitarbeitenden verlangt und rechtlich verankert werden.
Durchwegs ein gutes Zeugnis stellt Monika Egli-Alge den Heimen für ihre Konzepte und Abläufe aus, die von hoher Qualität seien und den heute allgemein anerkannten fachlichen Standards entsprechen würden. Einzig bei der Umsetzung der Konzepte und Prozesse im Alltag sieht sie Handlungsbedarf. Sie empfiehlt daher in der Aus- und Weiterbildung einen Schwerpunkt zum Thema Nähe und Distanz zu etablieren. Die Trägerschaften der Institutionen seien anzuhalten, diese Aus- und Weiterbildungen von ihrem Personal einzufordern und gleichzeitig die entsprechenden finanziellen und strukturellen Mittel zur Verfügung zu stellen. Beim Thema Trägerschaft regt sie überdies an, den Nonprofit-Charakter zu prüfen und allenfalls eine Anpassung in Richtung professioneller Strukturen einzuleiten.
In beiden Expertenberichten wird die Schaffung einer unabhängigen und niederschwelligen Fachstelle im Sinne einer Ombuds- oder Beschwerdestelle für alle Heimbereiche gefordert. Die Gesundheits- und Fürsorgedirektion klärt die Möglichkeiten für die Schaffung einer solchen Stelle zurzeit ab und geht davon aus, dass sie im Verlauf des Sommers weiter informieren kann.